Ein Glaubensbekenntnis und ein technischer Ratgeber
– in Anlehnung an Jack Kerouacs Prosa-Vorbild aus der Evergreen Review, New York 1958 –
Liste der unentbehrlichen Hilfsmittel:
- Frage dich, ob Zeitzeugengespräche sachlich notwendig sind.
- Informiere dich über die Sachzusammenhänge.
- Bringe stets genügend Zeit mit.
- Sei höflich und interessiert, aber nicht neugierig und aufdringlich.
- Lehne keine Tasse Kaffee, aber Übernachtungsangebote ab.
- Achte darauf, dass alle Geräte funktionieren und alle Stecker stecken.
- Unterbrich den Zeitzeugen nicht in seinem Redefluss.
- Bleibe aufmerksam.
- Diskutiere nicht, sondern frage nach.
- Biete dem Zeitzeugen kein Geld an und nimm selbst keines von ihm an.
- Verabrede mit dem Zeitzeugen Inhalte, Form und Modalitäten einer möglichen Veröffentlichung.
- Halte bis zur Publikation der Ergebnisse regelmäßigen Kontakt zum Zeitzeugen.
- Glaube niemals, es war das letzte Mal …

1. Was ist Oral History?
a) Erfahrungsgeschichte
Oral History stellt in den Geschichtswissenschaften eine hermeneutische Methode zur Produktion und Bearbeitung mündlicher Quellen dar. Sie kann Teil einer methodisch umfassenderen historischen Forschung sein, wird aber ebenso als eigene Forschungsrichtung mit spezifischen Inhalten verstanden. Der zentrale Gegenstand der Oral History ist die subjektive Erfahrung einzelner Menschen, die mit Hilfe von Erinnerungsinterviews abgefragt wird, die aber auch in anderen autobiographischen Zeugnissen (z.B. Tagebücher) niedergelegt sein kann. Aufgrund ihrer methodischen Vielfalt wird die Oral History mitunter als „Erfahrungsgeschichte“ oder „Erfahrungswissenschaft“ bezeichnet. Ihr geht es um die Untersuchung von Verarbeitungsformen historischer Erlebnisse und die Veränderungen der Selbstdeutungen von Menschen in der Geschichte. Das Bewusstsein von der Wandlungsfähigkeit der menschlichen Selbstkonstruktion verweist auf die Besonderheit der Oral History im Kontext der Basisoperationen der Historischen Methode (Heuristik, Kritik, Interpretation): Ebenso wie alle anderen Quellen gehört auch das Erinnerungsinterview dem Zeitpunkt sowie den Bedingungen seiner Entstehung und nicht dem des berichteten Ereignisses an, ist für den Historiker somit ein äußerst junges und zudem unter eigener Beteiligung entstandenes Dokument der Gegenwart. Durch das erfahrungsgeschichtliche Erkenntnisinteresse können im retrospektiven Interview neben der aktuellen Selbstdeutung eines Zeitzeugen auch Wertewandlungen sowie Stereotypen in seinen Deutungsmustern aufgezeigt werden, wenn sich nämlich die gegenwärtigen Verarbeitungsmöglichkeiten zu den individuellen Erfahrungen und erinnerten Handlungsräumen nicht deckungsgleich verhalten.
b) Alltagsgeschichte
Angelehnt an die „Alltagsgeschichte“ sowie die „Geschichte von unten“ und deren Anspruch, nicht soziale und politische Systeme, sondern die in diesen Systemen lebenden Menschen zu erforschen, gilt das Erkenntnisinteresse der Oral History der „Lebenswelt“ einzelner. Sie thematisiert die Wirkungen von politischen und sozialen Veränderungen auf die Umgangsformen mit alltäglichen Lebens- und Arbeitsbedingungen. Über Erinnerungsinterviews lassen sich subjektive Bewältigungs- und Gestaltungsformen in einer modernen, differenzierten Lebenswelt beschreiben. Durch diesen Perspektivenwechsel können nicht nur Verallgemeinerungen in tradierten Geschichtsbildern enttarnt und spezifiziert werden, die Nähe zum Subjekt und zur lokalen Besonderheit offenbart unterschiedliche, eigen-sinnige Aneignungsformen von Handlungs- und Herrschaftsbedingungen, die fortgesetzt „für sich“ umgedeutet werden.
Nachdem die Oral History, deren Traditionen in den USA, Polen, Skandinavien und Israel liegen, Ende der siebziger Jahre nach Deutschland „importiert“ worden war, entwickelte sie sich im Arbeitskontext der Lokalgeschichte und im Arbeitsraum der „Geschichtswerkstätten“ zum wichtigsten Bindeglied zwischen professionellen und Laien-Historikern. Ein besonderes Gewicht wird ihr darüber hinaus bei der Feststellung von Konsens- und Dissenselementen einer Gesellschaft zugeschrieben, ebenso wie bei der Untersuchung der Bedeutung von Vorerfahrungen für nachfolgende historische Abschnitte, bei der Bearbeitung der „Innenansichten“ sozialer Gruppen, bei der Erforschung nicht nur jener auf Veränderungen in der Selbstdeutung beruhenden Dynamik innerhalb von Biographien, sondern auch zwischen den Generationen sowie – allerdings nur insofern es an herkömmlichen archivalischen Quellen mangelt – bei der Rekonstruktion von Ereignissen und Abläufen.
2. Die Suche nach Zeitzeugen
a) Suchformen
Die Oral History erfreut sich in der Zeitgeschichtsforschung zunehmender Beliebtheit. Doch auch hier gilt: Der Einsatz eines methodischen Instrumentariums hat sich nach Erkenntnisinteresse und Fragestellung zu richten. Vielfach zahlt sich der hohe Aufwand, den die Durchführung von Zeitzeugengesprächen mit sich bringt, nicht aus. Im Vorfeld sollte daher sorgfältig abgewogen werden, wie relevant Interviews für die Lösung der eigenen Forschungshypothese sind. Reflektiert werden müssen zudem die unterschiedlichen Voraussetzungen und Erwartungen, mit denen die Gesprächspartner in ein lebensgeschichtliches Interview hineingehen. Der Erfolg der Oral History hängt daher zu einem guten Teil bereits davon ab, auf welche Art und Weise die Zeitzeugengespräche zustande gekommen sind.
Die Anbahnung von Zeitzeugengesprächen lässt sich in die zwei Phasen des Ermittelns von Zeitzeugen sowie des ersten Kontaktes mit ihnen unterteilen. Die Suche nach Zeitzeugen kann dabei gezielt oder ungezielt erfolgen, je nachdem, wie konkret die eigenen Vorstellungen über den Zuschnitt der Zielperson oder -gruppe sind. Wird die Oral History für alltagsgeschichtliche Untersuchungen herangezogen, so werden regelmäßig eher weitgestreute, öffentliche Aufrufe zur Gewinnung von bis dato unbekannten Zeitzeugen unternommen. Wird die Oral History hingegen zu Illustrationszwecken von ansonsten mit herkömmlichem Quellenmaterial recherchierten Themen eingesetzt oder aber zur Durchführung von so genannten Experteninterviews, dann erfolgt die Suche gerichteter, meist in der Absicht, eine konkrete Person als Fachmann für ein Gespräch zu gewinnen. In diesem Falle kann die Kontaktaufnahme nur durch direkte Ansprache erfolgen, am besten in Gestalt eines freundlichen Anschreibens, in welchem man knapp, aber präzise das eigene Forschungsvorhaben erläutert und etwaige Auftraggeber bzw. den Arbeitskontext (Uni-Abschlussarbeit; Geschichtswerkstatt etc.) nennt sowie um eine telefonische oder postalische Rückmeldung bittet. Der Kreativität beim Finden von Zeitzeugen sind nur insofern Grenzen gesetzt, als dass die Privatsphäre der potenziellen Gesprächspartner besonderen Schutz genießt (vom „Klinkenputzen“ und „Telefonterror“ ist dringend abzuraten). Im Falle der nicht eng spezifizierten Suche nach Zeitzeugen sind unter anderem folgende Suchformen denkbar: Zeitungsinserate oder Zeitungsartikel mit einer kurzen Projektvorstellung, Aushänge, Flugblätter oder Rundschreiben, Kontakt- und Informationsstände auf dem Wochenmarkt, aber auch das Aufsuchen institutionalisierter Gesprächskreise, wie z.B. Stammtische, Vereine oder Erzähl-Cafés.
b) Mittelsleute
Sind erst einmal Kontakte zum Zeitzeugenmilieu hergestellt, so erfährt man recht schnell, welche Person aus diesem Kreis über besonders zahlreiche Beziehungen verfügt, so dass diese Ansprechpartner als eine Art Mittler- bzw. Brückenfigur zu anderen fungieren oder sich dafür einsetzen lassen. Diese Mittelsleute identifizieren sich meist schnell und eng mit dem Zeitzeugenprojekt, besitzen durch ihre Orts- und Personenkenntnis naturgemäß eine hohe Akzeptanz und Überzeugungskraft unter ihresgleichen, selbst wenn sie über die inhaltliche Ausgestaltung des Projektes nicht ausführlich informieren können. Sie führen eher den Interviewer als das Projekt in ihren Kreis ein und können dem Historiker auch im weiteren Fortgang des Oral History-Projektes als zentraler lokaler Ansprechpartner und Organisator dienen. Je nach Thema des Oral History-Projektes können die zuerst entstandenen persönlichen Kontakte zu Zeitzeugen dafür sorgen, dass rasch weitere Gesprächspartner gefunden werden: Das „Schneeballsystem“ der Zeitzeugensuche, mit dem man sich vielmehr lawinenartige Reaktionen verspricht, indem man die vorhandenen Zeitzeugen nach weiteren potenziellen Gesprächspartnern aus ihrem Familien- und Freundeskreis befragt, zeitigt jedoch nicht immer die gewünschten Resultate. Soll es im Oral History-Projekt um die Behandlung tabubelasteter Themen gehen, beispielsweise um die Ausgrenzung und Verfolgung jüdischer Einwohner eines Ortes, so stößt vielfach selbst die Vermittlungstätigkeit guter Freunde und enger Angehöriger an ihre Grenzen. Des weiteren leidet das „Schneeballsystem“ in gewisser Weise unter seiner perspektivischen Engführung: Macht man im Laufe von Oral History-Untersuchungen vielfach die Erfahrung, dass die lebensgeschichtlichen Berichte und Erzählungen für die Zeitzeugen – wenn nicht gar in Gänze, so doch meist in ihrer Intimität – eine Premiere darstellen, so kann ein Zeitzeugencluster, welches stark aus einem Familien- oder Freundeskreis geschöpft ist, auch zur Abgleichung der erzählten Geschichten führen. Durch die von den Zeitzeugen selbst durchgeführte Kontaktanbahnung geschieht bereits im Vorfeld der Gespräche mit dem Interviewer eine thematische Verständigung unter den potenziellen Zeitzeugen. Auch wenn Oral History-Erhebungen in der Regel keine Repräsentativität beanspruchen, so gilt es insbesondere beim Einsatz des „Schneeballsystems“ dessen impliziten Beschränkungen zu beachten.
3. Vorbereitung eines Zeitzeugengespräches
a) Gesprächspartner
Trotz der vom Historiker ausgehenden Initiative, ein Zeitzeugengespräch anzubahnen, geschieht die Kontaktierung der Zeitzeugen meist indirekt: Die potenziellen Gesprächspartner reagieren auf den Interviewwunsch des Historikers, der sie in Form einer Annonce oder eines persönlichen Anschreibens erreicht hat. Es müssen daher schon die beim Zustandekommen eines Zeitzeugenkontaktes herrschenden Umstände und Intentionen für die spätere Quellenkritik berücksichtigt werden. Aufgrund der abwechselnden, zeitlich versetzten Kommunikationsaktivitäten der vermeintlichen Interviewpartner bei der Kontaktaufnahme fehlt Zeitzeugengesprächen die für alltägliche Gespräche typische Spontaneität und der gleichberechtigte Dialog. Nur wer meint, etwas zu sagen zu haben, sieht sich von einem Aufruf dahingehend angeregt, den Kontakt zum Historiker herzustellen, was wiederum Rückschlüsse auf den Charakter und die Selbsteinschätzung des Antwortenden zulässt. Die Palette der potenziellen Gesprächspartner reicht zumindest vom lokalgeschichtlich Interessierten über den sachkundigen Bürger bis hin zu eben denjenigen Augenzeugen, die die angefragte historische Situation miterlebt haben. Doch auch diese Auswahl aus der großen Gruppe der im Rahmen von Oral History-Forschungen vorzugsweise untersuchten „schweigenden Mehrheit“ einer Gesellschaft stellt – verglichen mit denen, die nicht das Wort ergreifen mögen oder meinen, nichts zu sagen zu haben – nur eine sich artikulierende Minderheit dar.
b) Vom Kontakt zum Gespräch
Bereits im Zuge der Kontaktanbahnung wird man mit dem Problem konfrontiert, wie weitreichend die inhaltlichen Informationen über die mit dem Zeitzeugengespräch verfolgten Absichten sein müssen. Einerseits klären die Vorabinformationen (die sich auch auf den Ablauf und den Ort, also die äußere Form des Interviews beziehen) die berechtigten Fragen der Zeitzeugen, helfen damit auch, sie für das Gespräch zu gewinnen und zu motivieren. Andererseits beginnt mit dem Zeitpunkt, an dem der Zeitzeuge Ankündigungen und Beschreibungen von dem Oral History-Projekt registriert (das kann möglicherweise lange Zeit vor seinem Entschluss sein, selbst daran teilzunehmen), eine in Hinblick auf die erwarteten Fragehinsichten mehr oder minder bewusste Aktualisierung des dynamischen Selbstschemas, das einer Lebensgeschichte Kontinuität und Stabilität verleiht. Daher sowie um das eigene Engagement und die Seriosität des Oral History-Projektes gegenüber dem Gesprächspartner zu dokumentieren, gilt es, die zeitliche Distanz zwischen der Kontaktaufnahme und dem Zeitzeugengespräch nicht zu lang werden zu lassen. Schon von dieser Phase an stellt der Zeitzeugenkontakt ein besonderes Betreuungsverhältnis dar, das sich im Zuge der Interviews zu einem intensiven, geradezu intimen Vertrauenskontakt entwickeln kann. Den Einblick, den Personen meist erstmals ihnen bis dato fremden Menschen in ihr Privatleben, ihre Empfindungen und Erinnerungen gewähren, macht das Zeitzeugengespräch zu einer zwischenmenschlichen Ausnahmesituation, da das Verhältnis in der Regel terminiert ist. Daher sollte schon zu Beginn der Kontaktaufnahme deutlich gemacht werden, dass es sich bei den folgenden Zeitzeugengesprächen jenseits aller möglichen gegenseitigen Sympathie und Verstehens um ein zeitlich befristetes Beziehungsangebot handelt.
c) Vorkenntnisse
Zeitzeugengespräche besitzen zweifelsohne das heuristische Potenzial, bekannten Sachverhalten neue Fragestellungen zu entlocken oder auf „weiße Flecken“ der behandelten Themen hinzuweisen. Insofern kann die Oral History am Anfang oder – im Falle der eher der Psychologie und der Sprachanalyse angehörenden autobiographischen Gedächtnisforschung – gar im Zentrum einer historischen Untersuchung stehen. Abseits des bekannten Bonmots, man könne Oral History entweder nur dann sinnvoll betreiben, wenn man mit einem Kassettenrecorder umzugehen verstehe oder aber wenn man vorher Soziologie, Psychologie und möglichst Politik studiert habe, bedarf jedes Interview einer gründlichen Vorbereitung auf die anzusprechenden Sachzusammenhänge. Dies gilt insbesondere für alltags- und sozial-, weniger für lebensgeschichtliche Interviews, wo höchstens bei Expertengesprächen (d.h. mit Personen der Zeitgeschichte, also Politikern, Kirchenführern etc., über deren Werdegang man sich mit Hilfe der Literatur vertraut gemacht haben sollte) die Kenntnis ganz unterschiedlicher Berufs- und Ortsbezüge vorausgesetzt werden darf.
4. Die Erhebungsunterlagen
a) Gesprächsführung
Oral History-Untersuchungen galten in der historischen Zunft nicht nur aufgrund angezweifelter wissenschaftlicher Relevanz und aus Misstrauen gegenüber den menschlichen Erinnerungsleistungen als fragwürdig, sondern auch, weil Historiker am Prozess der Produktion ihrer eigenen Quellen beteiligt sind, die erforderliche intersubjektive Überprüfbarkeit der Ergebnisse mithin unsicher erscheint. Insbesondere aus diesem Grund ist es notwendig, dass Zeitzeugengespräche gründlich geplant und dokumentiert werden.
Zeitzeugengespräche erfordern vom Historiker ein hohes Maß an Flexibilität und Umsicht, sowie Takt und Zurückhaltung bei gleichzeitig hoher Aufmerksamkeit und Präsenz. Dies gilt sowohl für das Verhalten gegenüber dem Gesprächspartner als auch für die Gesprächsführung selbst. Insbesondere lebensgeschichtliche Interviews sind inhaltlich schwer planbar, da sich im Vorfeld (während der Kontaktaufnahme, aber auch bei einem vermeintlichen Vorgespräch) die thematische Vielfalt aufgrund der unbekannten biographischen Schwerpunktsetzungen nur erahnen lässt. Dennoch ist es möglich, für eine Grobstruktur des Gesprächs Sorge zu tragen sowie mit Hilfe eines Rasters von Leitfragen grundlegende Fakten und Selbsteinschätzungen im Laufe des Gesprächs abzufragen. Die Fragen nach Herkunft, Sozialisation, Schule, Ausbildung, Berufsentscheidungen und Familienplanung erleichtern die Vergleichbarkeit verschiedener Interviews aus demselben sozialen Milieu und erlauben vor dem Hintergrund dieser Folie eine fundiertere Charakterisierung der Person.
b) Interview-Karte
Um die grundsätzlichen Personendaten eines Gesprächspartners festzuhalten, eignet sich die Verwendung einer Interview-Karte. Diese verzeichnet nicht nur Informationen zum Werdegang der Person und ihrer Familie, sondern auch Vereinbarungen, die die spätere Verwendung der Gesprächsaufzeichnungen betreffen (z.B. hinsichtlich der Veröffentlichung von Passagen). Die Interview-Karte im DIN A4-Format kann während des Gesprächs vervollständigt werden. Darüber hinaus kann sie, beispielsweise auf der Rückseite, dazu genutzt werden, sich Stichworte zu jenen angesprochenen Themenbereichen zu machen, die entweder im Vorfeld nicht erwartet worden waren, die ein – dennoch interessantes – Randproblem behandeln oder bei denen nicht umgehend nachfragt werden kann, weil ansonsten der Redefluss des Erzählers unterbrochen werden würde. Der eigene Fragehorizont wird somit stets aktualisiert und erweitert; mit Hilfe der Interview-Karte sind gezielte Nachfragen auch zu neuen Themen möglich.
c) Protokollformen
Ein Zeitzeugengespräch lässt sich auf unterschiedliche Art und Weise protokollieren und mit unterschiedlichem technischen Aufwand dokumentieren. Üblicherweise finden folgende Formen Verwendung: die Mitschrift, das Erinnerungsprotokoll, die Tonband-, Kassetten- oder DAT-Recorder-Aufnahme sowie die Videoaufzeichnung. Sämtliche Verfahren sind kombinierbar; der Einsatz sollte aber letztlich vom Wunsch des Zeitzeugen abhängig gemacht werden. Für die Zeitzeugen steht das Gespräch im Mittelpunkt des Treffens und nicht seine Dokumentation, so dass es sich empfiehlt, den Medieneinsatz in den Vorgesprächen abzuklären, damit der Zeitzeuge nicht von laufenden Kameras und von unter die Nase gehaltenen Mikrofonen überrascht und überfordert wird.
Die diskreteste Dokumentationsart stellt das Erinnerungsprotokoll dar, weil es nicht während des Interviews vom Dialog zwischen den Gesprächspartnern ablenkt. Es sollte direkt im Anschluss an das Zeitzeugengespräch vom Interviewer niedergeschrieben werden und sowohl über die Inhalte des Gesprächs berichten als auch über die Gesprächsatmosphäre und das Ambiente des Befragungsortes. Im diesem Punkt geht das Erinnerungsprotokoll in das von vielen Zeitzeugenprojekten genutzte Werkstatt-Tagebuch ein. In diesem Tagebuch hält der Interviewer seine subjektiven Eindrücke vom Zeitzeugen und den geführten Gesprächen fest. Er notiert eigene Befindlichkeiten, Ziele und Erwartungen, beschreibt die situativen Gegebenheiten des Zeitzeugengespräches (Ort, Zeit, Klima, Gerüche, Geräusche etc.) und kommentiert die Aussagen und das Verhalten des Zeitzeugen. In Gestalt des inneren Monologs sowie durch genaue Sachbeschreibungen überliefert das Werkstatt-Tagebuch Umstände des Interviews für seine spätere Auswertung. Ergänzt um das umfangreiche Erinnerungsprotokoll stellt es eine einzigartige Quelle „persönlicher“ Geschichtsschreibung dar (in der also der Historiker selbst Gegenstand einer historischen Betrachtung wird). Dennoch ist das Erinnerungsinterview für den Interviewer zugleich die am wenigsten befriedigende Dokumentationsart, wenn es ihm um die Originalität und Authentizität der Aussagen sowie um das Festhalten möglichst vieler Informationen und detaillierter Schilderungen geht.
d) Audio-Aufzeichnungen
Gängige Instrumente zur Aufzeichnung von Zeitzeugengesprächen sind der Kassetten- und der DAT-Recorder sowie neuere digitale Audiospeichergeräte. Aufgrund ihrer Größe sind sie unauffällig, lassen sich bequem auf, besser noch neben dem Tisch, an dem ein Gespräch stattfinden sollte, platzieren und dominieren somit nicht die Gesprächskonstellation. Die Aufnahmegeräte sollten mit einem externen Mikrofon ausgestattet werden. Das Mikro gewährleistet eine hohe Aufnahmequalität und ist zudem in größerer Entfernung vom Zeitzeugen, z.B. auch verborgen hinter einer Blumenvase auf dem Tisch, aufzustellen, so dass dieser bald vergisst, dass seine Worte aufgezeichnet werden. Da die meisten Zeitzeugen, die man für alltagsgeschichtliche Untersuchungen heranzieht, es nicht gewohnt sind, sich flüssig zu artikulieren, sie sich daher durch ein Zuviel an technischem Equipment irritiert fühlen könnten, sollte man auch darauf achten, dass die Kassettenrecorder möglichst große Bandformate verwenden (Normal-Kassetten mit zumindest 90 Minuten Aufnahmedauer) und den Seitenwechsel automatisch durchführen. Diktiergeräte mit Mikrokassetten, wie sie in Büros verwendet werden, sollten auf diese beiden Faktoren (lange Spieldauer und Anschlussmöglichkeit für ein externes Mikrofon) hin geprüft werden. Besitzen Normalkassetten Vorteile bei der Aufnahmedauer, so lassen sich für Mikrokassetten bequemere Abspielgeräte mit Fußtastengebrauch (sog. Memo-Scriber) finden. Die technischen Investitionen sollten unbedingt aufeinander abgestimmt und der Umgang mit den Geräten eingeübt sein, um keine negativen Überraschungen zu erleben. Dazu gehört, dass alle Geräte mit autonomen und vor allem funktionierenden Stromquellen (Batterien, Akkus) ausgerüstet sind. Das ist insbesondere für Außenaufnahmen notwendig sowie für Besuche bei den Zeitzeugen, auch wenn diese üblicherweise den Anschluss der Geräte an den Stromkreis ihrer Wohnung gestatten.
e) Video-Aufzeichnungen
Bekannt aus populärwissenschaftlichen Geschichtssendungen im Fernsehen sind Zeitzeugeninterviews vor laufender Kamera. Im Zuge der technischen Entwicklung sind Video-Aufnahmen von hoher Qualität heutzutage bereits von Laien realisierbar. Für die Verwendung von Videokameras gilt weithin das oben zu den Kassettenrecordern Gesagte. Jedoch muss darauf geachtet werden, dass eine gute Ausleuchtung der Räumlichkeiten gewährleistet ist, sofern das Gerät nicht ohnehin über einen hohen technischen Standard verfügt (Weißabgleich etc.). Und trotz der leichten Handhabbarkeit moderner Video- und Digitalkameras macht es dieses Instrument häufig notwendig, dass zumindest eine weitere Person das Zeitzeugengespräch begleitet. Die Hinzuziehung eines Kameramannes sowie der aufwendigere technische Aufbau und die meist auffälligere Platzierung des Gerätes im Raume bedeuten jedoch auf der anderen Seite eine Einschränkung der Gesprächsatmosphäre. Auch hier gilt es, Gesprächsabsicht und Mitteleinsatz miteinander abzuwägen. Nachteilig sind weniger die höheren Kosten des Videoeinsatzes im Vergleich zur Audiokassettenaufnahme; hingegen kostet es die Zeitzeugen in der Regel stärkere Überwindung, sich filmen zu lassen. Ist vielen Zeitzeugen bereits jene für die Supervision typische Scheu vor einer Konfrontation mit dem eigenen gesprochenen Wort zu eigen, so kann die Aufzeichnung des eigenen Bildes für noch größere Hemmungen sorgen. Der negative Effekt einer Selbstzensur, der mit jeder bewussten Form der Bandaufnahme von eigenen Aussagen einhergeht, ist bei der Videoaufnahme sicherlich am größten. Die Vorteile des Videographierens wiederum liegen auf Seiten der Erfassung weiterer Wirklichkeitsdimensionen eines Interviews: Gestik, Mimik und Körperhaltung der Zeitzeugen unterstreichen oder konterkarieren auch ihre Aussagen. Momente des Schweigens, überhaupt die ganze Bandbreite nonverbaler Kommunikation (Emotionen und Stimmungen wie Freude und Trauer etc.) sowie Zeichen unausgesprochener Zustimmung oder Ablehnung (Kopfschütteln und -nicken) bei Impulsen des Interviewers fließen durch die Videoaufnahme in die Oral History-Produktion mit ein und erweitern die Möglichkeiten der Interpretation des Zeitzeugengespräches. Die Filmaufnahme vom Zeitzeugen, aber auch die seines Lebens- und Arbeitsumfeldes sowie die Einblendung von im Gespräch behandelten Gegenständen und Dokumenten machen das Video – mehr noch als eine nicht-transkribierte Audioaufnahme – bereits selbst zum Ergebnis der Oral History. Die Analyse und Bewertung des Zeitzeugengespräches erübrigt sich damit allerdings nicht.
f) Fotodokumentation
Für die bildliche Dokumentation eines Zeitzeugengespräches eignet sich schließlich der erheblich unaufwendigere Einsatz eines Fotoapparates. Sofern nicht auch hier ein zusätzlicher Kameramann zum Einsatz kommt, begleitet eine Fotodokumentation jedoch nicht das Zeitzeugengespräch, sondern ergänzt seine Inhalte, indem man im Anschluss an das Interview die thematisierten Lokalitäten und Gegenstände wie auch den Zeitzeugen selbst fotografieren kann. Auch hier wie in allen anderen Fällen richtet sich, um es noch einmal zu betonen, die Verwendung von technischen Hilfsmitteln bei einem Zeitzeugengespräch nach dem Willen des Zeitzeugen. So wie er durch seine Äußerungen im Gespräch bestimmt, welches Bild er von sich preisgibt, so kann er auch regeln, mit welchem Instrumentarium seine Aussagen aufgezeichnet werden. Um Probleme, die bei einer Verständigung über dieses Thema zwischen den Wünschen der Gesprächspartner entstehen können, nicht während des Zeitzeugengespräches aufkommen zu lassen, empfiehlt es sich dringend, jene Fragen, die die Dokumentation des Oral History-Projektes betreffen, im Vorgespräch einvernehmlich zu regeln.
g) Hinzuziehung von Dokumenten
Konfliktpotenzial aus dem Bereich der vor dem Interview beizubringenden Hilfsmittel birgt zu guter Letzt Quellenmaterial, mit dem der Zeitzeuge während des Gesprächs konfrontiert wird. Insofern steht zu überlegen, inwieweit der Interviewer seinen Gesprächspartner auf jenes Material vorbereitet, das er beabsichtigt, zum Zeitzeugengespräch mitzubringen. Dabei kann es sich beispielsweise um Kopien von Archivalien handeln, die den Wirkungskreis des Zeitzeugen betreffen oder auch um Fotos, die während anderer Gespräche erworben wurden, und ebenfalls Szenen aus dem Privat- oder Berufsleben des Zeitzeugen beinhalten. Fälle, in denen die Präsentation von weiteren, dem Zeitzeugen unbekannten oder unangenehmen Quellen geschieht, sind gleichwohl eher selten, meist auch nur bei Gesprächen mit Personen der Zeitgeschichte möglich – schließlich kommt die Oral History ja gerade dort zum Einsatz, wo herkömmliche Quellen fehlen. Doch gerade weil diese Form der Konfrontation im Zeitzeugengespräch selten ist, sollte man sich über die den Fortgang des Gesprächs meist negativ beeinflussenden Folgen schon im Vorfeld klar sein. Üblicher ist der umgekehrte Fall: Der Zeitzeuge ist in der Lage, während des Gesprächs private Unterlagen beizusteuern, die seine Aussagen illustrieren, erweitern oder belegen. Dieses Material bietet meist den Ausgangspunkt für viele Erinnerungen des Zeitzeugen, gehört damit in die Kategorie seiner „Erhebungsunterlagen“. Die Heranziehung von Dokumenten und Fotos, die das Gespräch anregen und ergänzen, trägt meist zu einem entspannten Gesprächsklima bei, weil sie Assoziationen und Erinnerungen wecken und viel selbstverständlicher interessierte Nachfragen des Interviewers erlauben (als das ansonsten beim eher neugierig wirkenden Nachbohren im Gespräch der Fall ist). Daher ist hier wie in Bezug auf die anderen genutzten Medien an die gründliche Vorbereitung der Zeitzeugengespräche zu erinnern, indem alle Verwendung findenden Hilfsmittel bei Gesprächsbeginn vollständig vorliegen.
5. Die Durchführung des Interviews
a) Gesprächsort
Inhalt und Klima eines Zeitzeugeninterviews hängen nicht nur von der Behandlung der angesprochenen Themen ab, sondern auch vom Gesprächsrahmen und von der Gesprächskonstellation. Für Zeitzeugen bedeutet bereits die Teilnahme an einem Oral History-Projekt eine große und ungewohnte Anstrengung. Zum einen sind sie aufgefordert, ihre Erfahrungen und Erinnerungen zu verbalisieren, ein Vorgang, der in jener mit einem Zeitzeugengespräch beabsichtigten Intensität im beruflichen und auch familiären Umfeld selten geschieht. Zum anderen erfolgt diese Preisgabe des eigenen Innersten in Gegenwart einer oder gar mehrerer unbekannter Personen. Dass die Interviewer zudem keinen Meinungsaustausch über beide Seiten betreffende Themen beabsichtigen, sondern die Erzählung, also die überwiegend einseitige Mitteilung des Zeitzeugen wünschen, erhöht für diese die Schwierigkeit des Unterfangens. Aus diesen Gründen spielt die Wahl des Gesprächsortes eine große Rolle. Nicht nur weil es für ihn den geringsten Bewegungsaufwand bedeutet, finden Oral History-Interviews idealerweise in den „vier Wänden“ des Zeitzeugen statt. Das kann in seinem Wohn- oder Esszimmer ebenso sein wie in seiner Werkstatt, eben dort, wo ihm Möbel, Bilder, Werkzeug und andere Gegenstände Orientierung und Sicherheit verleihen. Die Einladung nach Hause bedeutet darüber hinaus eine Veränderung in den bis dato herrschenden Machtverhältnissen zwischen Interviewer und Zeitzeugen. Musste sich dieser bis dahin in seiner Rolle als Gast bzw. Teilnehmer des Oral History-Projektes auf viele unbekannte Faktoren einlassen (hinsichtlich Absicht, Anspruch, Personal und Intimität des Unternehmens), so emanzipiert er sich nunmehr gleichsam aufgrund seiner erweiterten Rolle als Gastgeber in seinem Zuhause, also einem Terrain, auf dem der Interviewer unsicher ist. Überlässt man dem Zeitzeugen die Entscheidung, an welchem Ort das Gespräch durchgeführt wird, so kann der Interviewer letztlich sicher sein, dass die Konstellation der „Wohlfühlfaktoren“ (das geht hin bis zu seinem angestammten Sitzplatz am Esstisch) für den Zeitzeugen stimmt und man ihn zudem auf jener „Bühne“ sieht, auf der er auch seine „Alltagsrolle“ spielt (Stöckle). Gibt das Heimspiel bei der Teilnahme an einem Oral History-Projekt dem Zeitzeugen Halt und Sicherheit, so gewährt es dem Interviewer einen zusätzlichen Einblick in die Lebensführung sowie den wirtschaftlichen und (wohn-)kulturellen Hintergrund seines Gesprächspartners.
b) Einzelinterview
Für Oral History-Projekte sind im Prinzip verschiedene Gesprächskonstellationen denkbar, bei denen sowohl die Zahl der Zeitzeugen als auch die Zahl der Interviewer variieren kann. Jede Konstellation birgt Vor- wie auch Nachteile, sollte daher vom Primärinteresse des Interviewers abhängen, der zu berücksichtigen hat, welche Inhalte im Gespräch berührt werden sollen und wie die Beziehung zwischen den Gesprächspartnern geartet sein soll. Da für jede Gesprächskreisgröße dieselben Voraussetzungen im Hinblick auf die inhaltliche und zwischenmenschliche Vorbereitung des Interviews gelten, bedeutet die Vergrößerung des Gesprächskreises auch eine Intensivierung des Kontaktes. Die am einfachsten zu überschauende Gesprächskonstellation ist das Interview mit einem einzigen Zeitzeugen. Sie kommt in dieser Reinform jedoch nur selten vor, da in jeder Phase des Projektes unvorhersehbar weitere Personen (z.B. Familienangehörige oder weitere Zeitzeugen) hinzutreten können. Das Einzelinterview gewährt dennoch die höchste Konzentration der Gesprächspartner aufeinander, was zu einem kontinuierlich fortschreitenden Prozess des gegenseitigen Kennenlernens führt. Dieses Vertrauensverhältnis kann die Basis für ein Gelingen des Oral History-Projektes legen, insofern im Laufe der Zeit (dabei kann es sich um Stunden, aber auch um Monate handeln) nicht nur viele Themen offen angesprochen werden können, sondern über sie auch offen berichtet wird. Der Erfolg eines Oral History-Unternehmens hängt jedoch beileibe nicht vom Grad der Intimität oder Emotionalität eines Gespräches ab. Diese Faktoren können jedoch auch für ein größeres Vertrauen in die inhaltlichen Ergebnisse des Interviews sorgen, insofern der Zeitzeuge auf den ordnungsgemäßen Umgang mit seinen Erinnerungen vertraut und der Interviewer auf die Wahrhaftigkeit der gemachten Äußerungen vertrauen darf. Sachlichkeit, also das gegenseitige Ernstnehmen, und Emotionalität bewirken nur zusammen jene Offenheit, die die Durchführung eines Oral-History-Interviews für beide Seiten sinnvoll macht.
Da Einzelinterviews häufig von dem Hinzukommen anderer Personen unterbrochen werden können, muss der Interviewer darauf acht geben, dass letztlich der Zweck des Beisammenseins nicht in Vergessenheit gerät. Kann, wie oben erwähnt, der Einsatz von Aufnahmegeräten und anderen Medien einerseits zu einer gewissen Unsicherheit des Zeitzeugen beitragen, so dokumentieren die Erhebungsunterlagen andererseits auch die Professionalität des Interviewers, die den Hinzukommenden signalisieren können, das im Raume etwas anderes als ein Kaffeeklatsch stattfindet.
c) Interviewunterbrechungen
Dennoch sollte der Interviewer auf jede Unterbrechung gelassen und souverän reagieren – und sei sie auch noch so kontraproduktiv (Beispiel: der Nachbar kommt hinzu, erzählt dem Zeitzeugen etwas anderes und das Gespräch endet), überraschend (Besuch der neugierigen oder unaufmerksamen Nachbarin) oder enervierend (laut schnarchende Oma auf dem Sofa; bellender Hund). Im besten Falle lassen sich die Hinzugekommenen sogar zum Gespräch hinzuziehen, auch wenn sich die Gesprächsatmosphäre und der Tiefgang der Aussagen damit verändert. Das Hinzuziehen von weiteren Gesprächsteilnehmern kann hingegen sogar intendiert sein, um die Perspektive auf einen Sachverhalt zu erweitern. Man sollte jedoch gründlich abwägen, ob man eher auf ein intimes, lebensgeschichtliches Erinnerungsinterview abzielt oder ob es um die Klärung von bestimmten Sachverhalten oder historischen Techniken geht. Wird ein im Gang befindliches lebensgeschichtliches Interview unterbrochen, beispielsweise durch den beinahe obligatorischen Kontrollbesuch von Kindern oder Verwandten des Zeitzeugen, die sich in Absprache mit dem Zeitzeugen von der Rechtschaffenheit des Interviewers vergewissern wollen, so kann auch das aufschlussreiche Informationen für manche Sachzusammenhänge liefern, der Interviewer sollte sich jedoch um einen Folgetermin für ein weiteres Einzelgespräch mit dem ursprünglichen Zeitzeugen bemühen. Er sollte hingegen nicht versuchen, aus Zeitgründen oder Desinteresse am sozialen Umfeld seines Zeitzeugen, die Hinzugekommenen aktiv zum Gehen zu bewegen; ein solches Verhalten könnte letztlich zur kontraproduktiven Solidarisierung des Zeitzeugen mit seiner Familie und damit zum Abbruch des Gesprächs oder gar des Kontaktes führen.
d) Gruppeninterview
Gruppeninterviews können durchaus gewinnbringend sein, da Erinnerungen angeregt und Bewältigungsstrategien ausgetauscht werden. Fehlerhafte Detailerinnerungen können korrigiert, und unterschiedliche Blickrichtungen auf denselben Gegenstand eingenommen werden. Insbesondere im Gruppeninterview tritt die Individualität der Lebensgeschichten deutlich hervor, wenn die Erzählungen von Zeitzeugen, die man vordergründig derselben sozialen Schicht, demselben Milieu oder derselben Alterskohorte zurechnet, ihre unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen oder (in Hinblick auf den langen zeitlichen Abstand zum Erlebnis) Verarbeitungsformen offenbaren. Diese Erkenntnis kann nicht nur für den Interviewer, sondern auch für die beteiligten Zeitzeugen frappierend und neu sein. Vielfach mussten Menschen, die jahrzehntelangen Umgang miteinander pflegten, im Zuge von Oral History-Projekten überraschend feststellen und lernen, welche unbekannten Seiten ihr Freund, Nachbar, ja sogar Verwandter und Ehepartner besaß. Kleine Geheimnisse und verborgene Sehnsüchte wurden sodann während eines Gruppeninterviews erstmals offenbart, so dass das Zeitzeugengespräch paradoxerweise als eine größere Vertrauens- und Schutzzone wahr- und angenommen wurde als das private Gespräch unter vier Augen. Dialoge zwischen Eheleuten wie: „Das hast du mir aber noch nie erzählt!“ – „Nun, du hast ja auch nie danach gefragt!“ sind keine Seltenheit. Dies mag ein Beispiel dafür sein, dass Kommunikationsstrukturen und -inhalte zwischen vertrauten Personen, nicht zuletzt Ehepartnern, erstarrt oder routiniert sein können. Legt ein Gruppeninterview diesen Zustand zum Teil offen, so kann es andererseits auch derart ablaufen, dass die fixierten Rollen und die bekannten Positionen auch gegenüber dem Interviewer beibehalten werden, eine gegenseitige Beschränkung des Mitteilungsbedürfnisses sowie mangelnde Souveränität bei Äußerungen des Anderen herrscht: Man fällt sich gegenseitig ins Wort, versucht, das Gespräch zu dominieren und erklärt die Aussagen und den geistigen Horizont des Anderen für fehlerhaft und eingeschränkt und konkurriert um die tollste Geschichte. Ein besonderes Problem stellen in dieser Hinsicht generationenübergreifende Gruppeninterviews dar. Beteiligen sich Kinder von Zeitzeugen am Projekt (meist stoßen sie im Verlauf des Gesprächs spontan dazu), so kann es sein, dass sie Berichten aus Zeiten, die sie selbst nicht miterlebt haben, nicht interessiert folgen und nicht konstruktiv nachfragen (nach dem Motto „Du hast mir doch schon mal da und da von erzählt – erzähl doch noch mal“ oder: „vor Jahren hast du mir aber ganz anders davon berichtet…!“), sondern sie zu unterbrechen und zu korrigieren versuchen (im Sinne von: „Das stimmt doch gar nicht!“). Ursächlich für ein derartiges Verhalten mag sein, dass die Kinder erstmals detailliertere Schilderungen ihrer Eltern über ein Thema mitbekommen (z.B. über Angst und Schicksalsergebenheit bei Fronteinsätzen im Krieg), und in gewisserweise aus Neid gegenüber dem Interviewer überreagieren, weil man sich diesem anvertraut, obwohl er doch gar nicht näher bekannt oder verwandt ist. Für viele Zeitzeugen ist, das muss an dieser Stelle erwähnt werden, gerade das Desinteresse der eigenen Kinder an den persönlichen Erlebnissen („ach Mutti, lass uns doch mit den alten Geschichten in Ruh´!“) Motivation, sich an einem Oral History-Projekt zu beteiligen.
e) Interviewergruppe
Eine weitere Gesprächskonstellation stellt das Auftreten gleich mehrerer Interviewer dar. Aus Sicht des Zeitzeugen (sofern es sich um einen einzelnen handelt) bewirkt die Anwesenheit zweier oder gar eines Teams von Interviewern (z.B. einer Schulklasse) eine Aufwertung seiner kommunikativen Rolle, was Folgen für Inhalt, Stil und Qualität der Erzählung zeitigen kann. Durch das – obgleich nur quantitativ – erhöhte Interesse an seinen Äußerungen wird sich auch der ungeübte Zeitzeuge der Inszenierung seiner Biographie bewusster als das üblicherweise bei paritätisch besetzten Gesprächen der Fall ist. Kann bei einem unter vier Augen geführten und lediglich durch ein dezent platziertes Kassettenaufnahmegerät dokumentiertes Zeitzeugengespräch die Illusion einer privaten Unterhaltung entstehen, so verändert sich mit dem größeren sozialen Rahmen auch das Verhalten: Was im öffentlichen Diskurs diskreditiert ist, kann privat geschätzt und gepriesen werden (man denke beispielsweise an Ausländerfeindlichkeit). Letztlich besitzt die Mitteilung von Erinnerungen nicht nur berichtenden, sondern stets auch rhetorischen Charakter. Diese konstruktivistische Eigenart des Erinnerns tritt in unterschiedlichen Gesprächskonstellationen deutlich zutage. Insofern lohnt sich die Veränderung des personellen Arrangements in Oral History-Projekten. Darüber hinaus kann es ein von zwei oder mehreren Interviewern durchgeführtes Zeitzeugengespräch diesen auch erleichtern, ihre Aufmerksamkeit gleich bleibend aufrecht zu erhalten. Zudem hören vier Ohren nicht nur mehr als zwei, sie hören auch anderes, haben andere Assoziationen, Interessen und Schwerpunkte. Dadurch dass die lebensgeschichtliche Erzählung eines Zeitzeugen für jeden Interviewer in ihrer Stofffülle immens ist und damit hohe Konzentration verlangt, sind zwei oder mehrere Interviewer leichter in der Lage, mit ihren Fragen Impulse aufzugreifen und auch zu setzen. Der Zeitzeuge, der im Gespräch regelmäßig in eine hohe Aktivität und geradezu eine Redseligkeit verfällt, hat nunmehr gleichwertig aktive Gesprächspartner, die in der Lage sind, sein Tempo mitzugehen, seinen Gedankensprüngen – denn keine Lebensgeschichte wird chronologisch erzählt – zu folgen und ihm kontinuierlich Fragen zu stellen.
f) Mehrfachinterviews
Oral History-Interviews sind für alle am Gespräch beteiligten Personen anstrengend, damit aber nicht gleichzeitig auch stets inhaltlich erschöpfend. Allein aus diesem Grunde lohnen daher wiederholte Treffen zwischen Zeitzeugen und Interviewer. Mehrfachinterviews erfüllen eine Reihe von Funktionen, insbesondere für die Kontrolle der erzählten Episoden, die Interpretation des Interviews und die persönliche Beziehung zum Zeitzeugen. Werden Interviews mit Zeitzeugen nicht durch äußere Umstände abrupt unterbrochen, so folgen sie einer Dramaturgie aus Erzählung und Nachfrage, die zwar vom Interviewer hervorgerufen werden kann, meist aber auch typischen Sprechaktpraktiken folgt. Insofern stellt jede erste lebensgeschichtliche Interview-Sequenz ungeachtet ihrer Länge eine erzählerische und argumentative Einheit dar. Alle Folgetreffen und -interviews nehmen auf diesen Ursprungstext Bezug, besitzen daher meist auch nicht dieselbe innere Kohärenz wie die „Genesis“ des Zeitzeugen, wenngleich die Absicht zunimmt, die Erinnerungen zu ordnen. Daher eignen sich Mehrfachinterviews, um durch Nachfragen festzustellen, wie konsistent die Erzählungen des Zeitzeugen tatsächlich sind, welche zusätzlichen Informationen geliefert werden können, welche Widersprüche sich aufheben lassen, welche Einschätzungen sich verändern, welche Routine der Zeitzeuge im Zuge der Erinnerungsarbeit entwickelt, letztlich: inwieweit nunmehr die erzählte Geschichte und nicht die ursprüngliche Erinnerung die Lebenslegenden des Zeitzeugen konstituiert. Doch auch der Interviewer ist bei zweiten und weiteren Gesprächen weitaus stärker an der Erinnerungsleistung des Zeitzeugen beteiligt als beim geradezu jungfräulichen ersten Mal: Die ihm nun bekannte Geschichte liefert ihm Material zum Nachhaken und Hinterfragen; sein Interesse wird detaillierter, sein Habitus engagierter und ungeduldiger (da er an manchen Punkten nun bereits Bekanntes hören wird und versucht, diese Stellen schneller zu bewältigen, um zu anderen Aspekten vorzustoßen), seine Offenheit für den erzählerischen Weg des Zeitzeugen nimmt ab, er wägt unausgesprochen stärker zwischen ihm relevant und weniger relevant erscheinenden Episoden ab. Wenn es schließlich an die Auswertung der Zeitzeugengespräche geht, so hat der Interviewer insbesondere bei Mehrfachinterviews stärker seine eigene Rolle und seinen eigenen Einfluss auf die Struktur der Erinnerungserzählung zu reflektieren. Ist die üblicherweise in diesem Punkt geforderte größtmögliche Zurückhaltung des Interviewers nicht mehr gewährleistet gewesen, so hat er seine Interviewaufzeichnungen daraufhin kritisch zu würdigen, an welchen Stellen er durch seine Interventionen die lebensgeschichtliche Großerzählung verändert, ihr eine andere Richtung gegeben haben mag, wo Brüche in der Erzählung eintraten und welche Aspekte der Zeitzeuge möglicherweise nicht ausgeführt oder nur angedeutet hat, obwohl sie ihm wichtiger gewesen wären, als jene Punkte, bei denen er sich dann veranlasst sah, die Wünsche und Fragen des Interviewer zu befriedigen. Der wiederholte, am besten von nicht allzu großen zeitlichen Pausen unterbrochene Kontakt zu einem Zeitzeugen im Rahmen eines Oral History-Projektes verursacht aber nicht nur negative Ausformungen der gegenseitigen Gewöhnung, sondern auch eine zunehmende Vertrautheit und Verbundenheit, die insofern vordergründig ist bzw. sein sollte, als dass sich der Interviewer durch das scheinbare Einvernehmen nicht selbst seines kritischen Instrumentariums berauben darf. Dennoch ist das Zeitzeugengespräch nicht nur eine wissenschaftlich zu verarbeitende Quelle und der Zeitzeuge kein simpler Proband in einer spezifischen Versuchsanordnung, sondern Partner im Gespräch, ja letztlich sogar ebenso Produzent und Interpret seiner Erinnerungsleistung wie der an diesem Akt geburtshelferisch mitwirkende Interviewer. Auch nach Abschluss eines Oral History-Projektes wird daher vor allem von Seiten des Zeitzeugen nicht prinzipiell die Beendigung des Verhältnisses erwartet, sondern durch das Beibringen immer neuer Geschichten vielfach sogar versucht, sich über die wissenschaftliche Aufmerksamkeit des Interviewers auch dessen soziale Bindung und Kompetenz mitsamt des häufig damit einhergehenden quasi-therapeutischen Betreuungsverhältnisses zu erhalten.
6. Gesprächsphasen
a) Gesprächsbeginn
Trotz intensiver Vorbereitung und ausführlicher Kontaktanbahnung weisen Zeitzeugengespräche Ähnlichkeiten zu einem „blind date“ auf, weil es sich um eine willentliche Verabredung zwischen Unbekannten handelt. Und wenngleich gegenseitige Sympathie nicht der für den Erfolg des Treffens einzig entscheidende Faktor ist, so kommt auch Oral History-Projekten die gelungene Kennenlern- und Startphase eines Gespräches sehr zugute. Lassen sich insgesamt die vier Phasen der a) Einführung, b) Erzählung, c) Nachfrage und d) Reflexion unterscheiden, so wird dieser Ablauf meist von „small talk“ umrahmt. Diese Gespräche, die sich – so banal das auch erscheinen mag – durchaus um das Wetter oder den Anfahrtsweg drehen dürfen, dienen nicht nur zum gegenseitigen Kennenlernen, sondern bereiten in Form einer Aufwärmphase auf die Gesprächskonstellation vor. Sie sollten aus beiden Gründen daher inhaltlich nicht anspruchsvoll sein. In dieser Situation findet der gemeinsame Weg zum Ort des Geschehens, zum Gesprächszimmer, statt, was durchaus mit Umwegen verbunden sein kann, beispielsweise einem Gang durch den Garten des Zeitzeugen oder einer Werkstattbesichtigung. Wird schließlich der Raum erreicht, in dem das Interview stattfinden soll, so erfolgt der Übergang in die erste, die Einführungsphase, in dem der „small talk“ inhaltlich auf das Oral History-Projekt umgeleitet wird. Das kann beispielsweise durch eine Erläuterung der Projektabsichten und -ziele geschehen, aber auch im Zuge der Installation der technischen Erhebungsunterlagen, wie Audiorekorder und Mikrofon, passieren. Bittet man den Zeitzeugen beim Aufbau und Anschluss der Geräte um Hilfe, so macht man sich in dieser ersten Phase durch die gemeinsame Tat nicht nur persönlich miteinander vertraut, sondern der Zeitzeuge verliert durch den Umgang mit den Medien auch seine eventuell vorhandene Scheu vor dem Einsatz dieser Apparate. In diesem Zusammenhang kann der Interviewer spielerisch vom häuslichen zum lebensgeschichtlichen Teil, also dem eigentlichen Gesprächsbeginn, überleiten, ohne dass er den Zeitzeugen förmlich auffordern müsste, seine Lebensgeschichte zu erzählen. Und ist dieses auch intendiert, so lässt sich die Phase der Erzählung sinnvoller mit weniger komplex anmutenden Fragen einleiten, zum Beispiel jener nach dem Herkunftsort.
b) Lebensgeschichtliche Erzählung
Die Darstellungsform narrativer Interviews, das sagt bereits der Name, ist die Erzählung. Auch für Oral History-Projekte mit einem inhaltlich oder zeitlich eng umrissenen Thema hat sich das Führen lebensgeschichtlicher Interviews bewährt. Hier dient die gesamte Biographie als Kontext für das Schwerpunktthema, wobei der Interviewer erfährt, welchen Stellenwert dieses Thema (z.B. „Frauenerwerbstätigkeit in der städtischen Textilindustrie“ oder „Zwangsarbeit im Dritten Reich“) im Leben des Zeitzeugen besitzt. Für die Oral History gilt es, dabei mehrere Kennzeichen des Erzählens zu berücksichtigen: Mit der Erzählung geht eine Selbststrukturierung der Lebensgeschichte einher. Ereignisse und Erfahrungen werden zu Sinnabschnitten zusammengefasst. Durch diese retrospektive Neuinszenierung werden die Lebensphasen, wenn nicht gar das ganze bisherige Leben, unter ein Leitthema gestellt und erhalten damit eine Stringenz, die es ermöglicht, auch biographische Brüche und persönliche Schicksalsschläge sinnvoll zu verknüpfen (sog. „Kontinuitätsgebot“). Die erzählerische Verknüpfung macht aus dem Kalender ein Tagebuch, aus den Erfahrungen ein Drehbuch und aus den Erinnerungen eine Geschichte. Individuelle Schwerpunktsetzung, aber auch die Verknüpfung womöglich ganz unterschiedlicher Episoden ist per se die Lebensleistung eines jeden Menschen, der stets den größten Kontinuitätsfaktor der Zeitgeschichte ausmacht; die Artikulation dieser Geschichte im Laufe der Oral History verdeutlicht aber, dass es sich bei der Erzählung nicht um eine Wiedergabe von Erfahrungen, sondern um eine Argumentation handelt. Mit ausgeprägter Skepsis betrachtet, geschieht derartiges vordergründig, in der Absicht, eigenes Tun oder Unterlassen zu verteidigen oder zu rechtfertigen – oder auch aus Wichtigtuerei oder anderen hedonistischen Gründen. Jedoch ist zu beachten, dass nicht nur die Lebenserinnerung von Menschen Rhetorik ist, sondern auch ihre Lebensplanung, ihre Hoffnungen, Wünsche, Träume, selbst ihre Ängste und Befürchtungen. Die Realität stellt stets die Projektion der Selbstwahrnehmung dar, und in diesem Bewusstsein formen auch Orale Historiker kein negatives Menschenbild aus, sondern lernen den wahrhaftigen vom bramarbasierenden Bericht zu unterscheiden.
c) Eingangserzählung
Aus dem Gesagten kann der Interviewer, der vor die praktische Herausforderung gestellt ist, die Eingangserzählung des Zeitzeugen anzustoßen, zumindest ableiten, dass Fragen wie „Erzählen Sie mir bitte Ihre ganze Lebensgeschichte!“ nicht sachdienlich sind. Zwar engen sie die Erzählung des Zeitzeugen nicht vorschnell auf ein bestimmtes Themenfeld ein, doch sind sie andererseits gleichermaßen unpräzise wie monumentalistisch, so dass die Äußerungen des Zeitzeugen jene Authentizität verlieren, die spontanen Antworten zu eigen sind, die also ohne den Druck entstanden sind, etwas Perfektes leisten zu müssen. Es ist daher ratsam, mit einer Frage zu beginnen, die das eigene Leben, aber noch nicht die eigene Erinnerung betrifft, wie z.B. „Sind Sie eigentlich in diesem Haus geboren worden?“ oder „Was arbeitete Ihr Vater in ihrem Geburtsjahr?“ – Die Erfahrung zeigt, dass die erste Gesprächsphase aus einer langen Erzählung des Zeitzeugen bestehen kann. Impulse des Interviewers sind kaum nötig, und wenn, dann sollten sie (noch) nicht aus detaillierten Nach- oder Verständnisfragen bestehen, sondern den Zeitzeugen lediglich zum Weiterreden ermuntern (z.B. „Dann war der Krieg also für Sie zu Ende – aber was geschah anschließend mit Ihnen?“). Interventionen des Interviewers sind während der Eingangserzählung des Zeitzeugen meist kontraproduktiv. Zwar sollen sie dem Zeitzeugen signalisieren, dass man seinen Gedankengängen aufmerksam folgt und mitdenkt, doch lässt sich dieses Ziel auch zurückhaltender, z.B. durch Kopfnicken oder anderes non- oder paraverbales Verhalten, erreichen. Ebenso wie Detailfragen den Zeitzeugen von der Schilderung seiner Erfahrungen ablenken, weil sie auf reine Wissenselemente abheben, und Zwischenfragen generell das Relevanzsystem des Zeitzeugen in Frage stellen können, weil dieser nunmehr annimmt, der Interviewer erwarte ganz andere Ausführungen von ihm, so müssen weitere kommunikative Falltüren gemieden werden: Während der Phase der Eingangserzählung produziert der Zeitzeuge nicht nur seine Version der eigenen Lebensgeschichte, er versteht seine Schilderung zugleich auch als eine Art Geschenk an den Interviewer, über dessen Zuschnitt sich eine Diskussion prinzipiell (bzw. zunächst einmal) verböte. Insofern geziemt es sich für den Interviewer – auch für den naturgemäß kritischen Historiker – nicht, seinen Gesprächspartner während dessen Erzählung auszufragen, beispielsweise wenn dieser über die Allgegenwart des Staatssicherheitsdienstes zur DDR-Zeit berichtet, und man sodann erfragen möchte, ob auch der Zeitzeuge oder jemand aus seiner Familie als Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi tätig gewesen ist.
d) Hemmnisse und Stützen der Erzählung
Denn auch wenn man sich bei Oral History-Projekten darüber im Klaren sein muss, dass Lebensgeschichten von Argumentationen und Rechtfertigungen durchzogen sind, so sollte man doch darauf verzichten, diese Verteidigungshaltungen und Rechtfertigungen aktiv hervorzurufen. In diesem Sinne erweisen sich ebenfalls Fragen nach Begründungen als unangemessen, weil auch sie vor allem einen Rechtfertigungsdruck erzeugen, beispielsweise wenn man fragt: „Warum haben Sie gegenüber den Ihnen doch vielfach bekannten IMs der Stasi nicht mehr Zivilcourage gezeigt?“. Auch vorschnell geäußerte Interpretationen zur Erzählung (z.B. „Sie hatten wahrscheinlich zuviel Angst, um den Leuten von der Stasi eine konkrete Mitarbeit abzuschlagen?!“) bewirken einen solchen Effekt, wie es sich andererseits erzählhemmend auswirken kann, wenn man sich mit der Position des Zeitzeugen identifiziert („Ja, mir ging das genauso!“ oder „Ja, das kenne ich gut!“), um eigentlich erzählunterstützend zu agieren. Hier empfindet der Zeitzeuge seine individuelle und damit einzigartige Geschichte als nicht ernst genug genommen. Erzählunterstützend wirkt es hingegen, wenn der Interviewer die mit einer Erzählung einhergehenden unausgesprochenen Gefühle anspricht („Sie fühlten sich in der Situation hilflos, nicht wahr?“ oder „Sie sind darüber immer noch zornig?!“), wobei es sich sowohl um die Verbalisierung gegenwärtiger Gefühle handeln kann, als auch um das Nachempfinden der zeitgenössischen Emotionen. Insbesondere während der hochemotionalen Passagen kann es zu Erzählunterbrechungen, Denkpausen oder Gefühlsausbrüchen kommen, die den Interviewer auch aus Verlegenheit nicht dazu veranlassen sollten, selbst die rednerische Initiative zu übernehmen, um hier eine als „peinlich“ missinterpretierte Stille zu überspielen. Das könnte den Zeitzeugen vom Thema seiner Großerzählung ablenken und der Geschichte eine alternative, jedoch nicht authentische Wendung geben.
Zäsuren in der Erzählung des Zeitzeugen erfolgen üblicherweise erst dann, wenn aus Sicht des Erzählers ein Sinnabschnitt erreicht scheint. Diese Gesprächspausen gilt es von den emotionalen Unterbrechungen zu unterscheiden, damit das Interview in die dritte Phase des Nachfragens eintreten kann. Vielfach setzt auch der Zeitzeuge den Schnitt an, indem er seine Erzählung mit einer kurzen Pause und der Frage „So, was wollen Sie noch wissen?“ beendet.
e) Nachfragen
Mit Beginn der Phase des Nachfragens nimmt der Interviewer, der bis dahin vor allem aufmerksamer Zuhörer war, nunmehr erst seine eigentliche Aufgabe wahr und übernimmt damit zugleich eine aktivere Rolle in der Gesprächskonstellation. Die Erzählung geht über in einen Dialog, und erst jetzt beweist sich die Kompetenz des Interviewers. Denn Fragen sind nicht nur Vorstöße in inhaltliches Neuland, sollen auch nicht nur von der prinzipiellen inhaltlichen Kompetenz des Interviewers zeugen, sondern sind zu diesem Zeitpunkt vor allem Ausdruck vom während der Zeitzeugenerzählung gewonnenen Verständnis für die lebensgeschichtlichen Umstände des Zeitzeugen. Denn dieser ist es, der bei den Nachfragen des Interviewers insgeheim spüren wird, ob der Interviewer ihm aufmerksam zugehört und ihn verstanden hat, ob er eine Vorstellung vom Selbstbild des Zeitzeugen gewonnen hat und ob er von dieser Grundlage aus in der Lage ist, einfühlsam jene Aspekte nachzufragen, die auch dem Zeitzeugen wertvoll und wichtig erscheinen, oder ob er lediglich sein – bereits vor dem Treffen mit dem Zeitzeugen entwickeltes – Vorverständnis von den sozioökonomischen Umständen und seine Kenntnis von der allgemeinen historischen Sachlage auf die Person des Zeitzeugen projiziert – und damit gewissermaßen über den Kopf des Zeitzeugen hinweg nachfragt.
Nachfragen dienen dementsprechend nicht dazu, den Zeitzeugen nach einer langen und dem Interviewer möglicherweise langatmig erscheinenden Erzählung auf jene Perspektive und Auffassung auszurichten, die der Interviewer im Vorfeld erwartet oder erhofft hat oder die er gar zur Bestätigung seiner These benötigt. Auch hier gilt es also, andersherum gesagt, nicht bewusst Rechtfertigungen des Zeitzeugen hervorzurufen, sondern ihn zu weiteren Erzählungen zu veranlassen. Nachfragen dienen in dieser Phase dem besseren Verständnis und zur Vertiefung der angesprochenen Themenbereiche. Sie orientieren sich daher auch am Ablauf der erzählten Geschichte, d.h. an der Reihenfolge der gemachten Mitschriften und nicht an der historischen Chronologie. Um nicht Verteidigungen oder Argumentationen, also rhetorisch reflektierte Beweisführungen hervorzurufen, sollte narratives Nachfragen nur auf eine der folgenden drei Arten geschehen: Entweder fragt man nach der Vorgeschichte eines Erzählthemas („Was ist zuvor passiert?“) oder man fragt nach dem weiteren Fortgang einer erzählten Situation („Wie ging es weiter?“) oder man bittet drittens um einen ausführlicheren Bericht über bereits Erzähltes („Bitte erzählen Sie mir doch mehr von diesem Ereignis!“). Ebenso wie die zum Argumentieren einladenden – wenngleich schon „Sesamstraße“-Kindern als prinzipiell klug machend angeratenen – „Wieso-weshalb-warum“-Fragen sollten auch Nachfragen nach Widersprüchen und sachlichen Details (Daten, Namen, Orte) vermieden werden oder zumindest in die sensible Form der Verständnisfrage gebracht werden („Das ist doch auch 1955 geschehen, oder?“), weil derartige, häufig nicht (mehr) beantwortbare Wissensfragen zu Unsicherheiten und thematischen Ablenkungen auf Seiten des Zeitzeugen führen können.
f) Reflexion und externes Nachfragen
Erst während der vierten Gesprächsphase haben diese Fragen nach Ursachen und Gründen („Warum-Fragen“) ihre Berechtigung und ihren Platz. Dieses Nachfragen erhält damit aber einen von den vorigen Gesprächsphasen abweichenden Charakter: Zum einen bedingt es die verstärkte Reflexion des Zeitzeugen über seine Antworten, zum anderen kehrt dadurch die gegenwärtige Weltsicht sowie die Formen des Umgangs und der Verarbeitung mit den vergangenen Ereignissen deutlicher hervor. Der Zeitzeuge interpretiert seine Erfahrungen nunmehr weniger historisierend als politisierend vom aktuellen Standpunkt und seinen jetzigen Lebensbedingungen aus. Während dieser abschließenden inhaltlichen Gesprächsphase löst sich das Gespräch aber auch zunehmend von der bisherigen Erzählstruktur des Zeitzeugen. Der Interviewer ist nunmehr in der Lage, nicht nur jene bis dato ausgeklammerten Aspekten zu hinterfragen, sondern kann auch neue Impulse geben, indem er die beispielsweise in Form eines Leitfadens vorbereiteten Fragen gezielt einbringt. Dieses externe Nachfragen nach Nichterzähltem (z.B. nach dem Kennenlernen des Ehepartners) stellt für den Interviewer eine Art Korrektiv dar, um den Stellenwert und die Bedeutung der erzählten Inhalte zueinander ermessen zu können.
Mit dem Übergang in eine stärker dialogische Gesprächsform nähert sich ein Zeitzeugengespräch häufig seinem Ende. Dennoch ist es für den Interviewer vielfach schwer, einen Schlusspunkt zu setzen, da gerade durch die gegebenen Anregungen während dieser Phase die Zeitzeugen einen „zweiten Atem“ erhalten. Erst jetzt scheinen sie die vermeintliche Geschichtsmächtigkeit ihrer Äußerungen zu bemerken, da sie durch das Frageraster des Interviewers den größeren historischen Kontext ihrer Lebensgeschichte erblicken. Es ist festzustellen, dass die Zeitzeugen nunmehr, da auch sie durch die aufkommende Endpunktrhetorik des Interviewers („So, Herr XY, ich habe den Eindruck, dass wir heute eine ganze Menge besprochen haben…“) das Ende des Gesprächs kommen sehen, nach neuen Geschichten und Geschichtchen suchen, die ihnen interessant erscheinen, dennoch meist eher legendenhaften Anekdoten als in die Biographie verwobenen Erfahrungsschätzen gleichen. Hier ist entweder des Interviewers Geduld gefragt oder sein Talent, „Herr des Verfahrens“ zu bleiben, indem er mit Hilfe von gezielten Überleitungen zum abschließenden „small talk“ oder jenen Fragen nach dem Befinden des Zeitzeugen nach Abschluss des autobiographischen Erzählens eine weiche, aber terminierte Gesprächslandung herbeiführt.
7. Die Bedeutung der Transkription
Durch die grammatikalische Aufbereitung der gesprochenen Sprache vom Tonband oder digitalen Speichermedium kann im Anschluss an die Gespräche zumindest gewährleistet werden, dass aufgrund der nunmehr les- und publizierbaren Form des Zeitzeugengesprächs nicht nur informative Daten und Fakten, sondern auch individuelle Bewältigungsformen und Sinnkonstruktionen nachgezeichnet werden können. Das vorwiegende Interesse von alltagsgeschichtlichen Zeitzeugeninterviews gilt meist eben nicht historischen Informationen, sondern dem persönlichen Erleben, Wahrnehmen und Verarbeiten von vergangenen Strukturen und Ereignissen im Lebenskreis der befragten Zeitzeugen.
Bereits durch die Schwierig- und Möglichkeiten der Transkription wird die Macht deutlich, die der Historiker über „seine“ Quellen besitzt. Diese Oral History-Quelle wirkt in einer doppelten Funktion: als Erzählung und als Interpretation ihrer selbst. Als Interpretation beansprucht sie lediglich Laienstatus und unterscheidet sich von der gleichnamigen geschichtswissenschaftlichen Forschungsoperation, die einerseits als ein intersubjektiv überprüfbares Verfahren gelten kann und deren Aussagen andererseits den Regeln der Quellenkritik standhalten müssen. Einer solchen qualitativen Interpretation können auch die Zeitzeugeninterviews unterzogen werden, wenn es darum geht, ihre Geschichte auf den historischen Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Der Zeugenaussage für Sachverhalte gilt häufig jedoch nur ein Sekundärinteresse an den Erinnerungsinterviews zum Alltag. Die Dokumentation der Gespräche wird so zwar nicht als „Text“ ausgewertet, liefert hingegen als emotionale Erzählung ein alternatives Deutungsangebot zum „kalten, umfassenden, erklärenden Blick“ des Historikers. Die Zeitzeugeninterviews geben zwar Auskunft über Wahrnehmungs- und Lebensweisen, weniger jedoch über die mit ihnen verknüpften Lebensbedingungen. So versteht die Erinnerung des Zeitzeugen „die“ Geschichte gleichsam von ihrem sentimentalen Rand aus, die Historiograhie hingegen begründet ihren rationalen Kern. Beide Interpretationen begegnen sich zudem auf eine weitere Art; sie schreiten – als Produkt ihrer Kommunikation – aus entgegengesetzten Richtungen aufeinander zu: die Forschung in Gestalt des Historikers als ,Kind‘ der Gegenwart, die Erinnerung in Gestalt des Zeitzeugen als ,Kind‘ der Vergangenheit. – Auch wenn in dem klassisch-historischen Abhandlungsteil einer Arbeit angesichts der getroffenen Auswahl der untersuchten Prozesse und Phänomene lediglich angestrebt wird, eine problemorientierte Detailgeschichte des Ganzen zu schreiben, so liefert ein solcher Teil doch den wissenschaftlichen Rahmen und die gesamtgesellschaftliche Einbettung für die Erinnerungen, die die Geschichte aller auf eine Romanze, Tragödie, Komödie oder Satire des einzelnen reduziert. Diese Grundlage ist aber weder ein warmes, sanftes Ruhekissen, das jede Erinnerung, auch die faktisch „falsche“, gleichsam amtlich bestätigt und unangreifbar macht, noch deckt sie Urteile und Vorurteile – und damit die biographische Konstruktion des Erinnerungsträgers – kurzerhand zu, um weiterhin Geschichtsschreibung unter Ausgrenzung der Erfahrungen, Sinnstiftungsmuster und Selbstdeutungen der Menschen betreiben zu können.
8. Literatur
Franz-Josef Brüggemeier/Dorothe Wierling: Einführung in die Oral History, 3 Kurseinheiten, Fernuniversität-Gesamthochschule Hagen 1986.
Uwe Kaminsky: „Oral History“, in: Hans-Jürgen Pandel/Gerhard Schneider/Ursula A. Becher (Hg.): Handbuch Medien im Geschichtsunterricht, Schwalbach 1999, 451-467.
Barbara Keller: Rekonstruktion von Vergangenheit. Vom Umgang der „Kriegsgeneration“ mit Lebenserinnerungen, Opladen 1996.
Jens Murken: „De Geschicht is lögenhaft to vertellen, ober wohr is se doch…“ Der Landkreis Osterholz 1932–1948. Zeitgeschichte im Gespräch, Münster 1999.
Anette Neff (Hg.): Oral History und Landeskirchengeschichte. Religiosität und kirchliches Handeln zwischen Institution und Biographie, Darmstadt 2004.
Lutz Niethammer: „Fragen – Antworten – Fragen. Methodische Erfahrungen und Erwägungen zur Oral History“, in: Lutz Niethammer/Alexander von Plato (Hg.): „Wir kriegen jetzt andere Zeiten“. Auf der Suche nach der Erfahrung des Volkes in nachfaschistischen Ländern, (LUSIR, Band 3), Bonn 1985, 392-445.
Alexander von Plato: „Oral History als Erfahrungswissenschaft. Zum Stand der ´mündlichen Geschichte´ in Deutschland“, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History, Heft 1. 1991, 97-119.
Frieder Stöckle: „Zum praktischen Umgang mit Oral History“, in: Herwart Vorländer (Hg.): Oral History. Mündlich erfragte Geschichte, Göttingen 1990, 131-158.
Rudolf Vierhaus: „Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten. Probleme moderner Kulturgeschichtsschreibung“, in: Hartmut Lehmann (Hg.): Wege zu einer neuen Kulturgeschichte, Göttingen 1995, 7-28.
Herwart Vorländer: „Mündliches Erfragen von Geschichte“, in: Ders.: Oral History. Mündlich erfragte Geschichte, Göttingen 1990, 7-28.
[https://www.muenster.de/~jake/jm/oral_history.htm]
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