Akten, Bücher und andere Dokumente erzählen die Geschichte der Evangelischen Kirche von Westfalen. Und wer die kennt, versteht vielleicht auch etwas besser die eigene Geschichte – und den eigenen Glauben.
So spannend kann Geschichte sein. Wenn Jens Murken über seine Arbeit berichtet, könnte man stundenlang zuhören. Der 39-Jährige mit dem offenen Blick und der freundlichen Ausstrahlung straft alle Vorurteile Lügen – Vorurteile, die kolportiert werden über blasse Archivare, deren Lebensinhalt ausschließlich darin besteht, in verstaubten Akten in dunklen Kellern zu wühlen und nichts anderes zu kennen als langweiligen alten Papierkram.
Herr der alten Schätze: Jens Murken, der Leiter des landeskirchlichen Archivs. (Foto: Annemarie Heibrock).
Unbekanntes zwischen Buchdeckeln, in Aktenordnern oder Kisten
Jens Murken ist Historiker. Seit Juni vergangenen Jahres leitet er das Archiv der Evangelischen Kirche von Westfalen. Hier erlebt er jeden Tag von Neuem, dass Geschichte niemals endet, dass es zwischen Buchdeckeln, in Aktenordnern oder Kisten immer wieder Unbekanntes zu entdecken, Schätze zu heben gibt. Vorausgesetzt, man schaut genau hin. Über zehn Kilometer gefüllte Regalfläche herrscht Murken zusammen mit zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Gemeinsames Ziel ist die „systematische Überlieferungsbildung der Landeskirche, so dass Verwaltungs- und Rechtshandeln nachvollziehbar bleiben“. Was der promovierte Historiker ausnahmsweise mal etwas bürokratisch formuliert, heißt konkret nichts anderes, als dass das Archiv dafür Sorge trägt, dass Verträge sicher und wiederfindbar aufbewahrt werden, damit dauerhaft Rechtssicherheit gewährleistet ist. Wie wichtig dieser Teil der Archivarbeit ist, hat sich zum Beispiel nach dem Fall der Mauer gezeigt, als Kirchen, die zu DDR-Zeiten enteignet worden waren, nachweisen mussten, was zuvor ihnen gehört hatte, um eine Rückgabe ihrer Güter zu erlangen.
Archive als »außerschulische Lernorte« entdecken
Das ist die ganz praktische Seite der Arbeit. Daneben gibt es auch einen Bildungsauftrag. Archive sollten, so meint Murken, der immer wieder auch Konfirmandengruppen empfängt und betreut, noch viel mehr als bisher zu einem „außerschulischen Lernort“ werden. Man müsse, so sagt er, eine Art „Kirchenarchiv-Pädagogik“ entwickeln, um nachwachsenden Generationen zu zeigen, in welcher Tradition sie stehen. Dass der Besuch des Archivs, das Erkunden der Vergangenheit der eigenen Kirche noch stärker als Mittel zur „religiösen Selbstvergewisserung“ wird, das wünscht sich Murken. Schließlich habe die westfälische Landeskirche mit ihrer Geschichte ein „gutes Produkt“ zu bieten. Das könne man offensiv nach außen vertreten – eben auch mit Hilfe des Archivs. Ein wichtiger Bereich der alltäglichen Arbeit heute aber ist die Familienforschung. Bis einschließlich 1875 lag das gesamte Personenstandswesen in Deutschland in den Händen der Kirchen, erst danach hat die kommunale Verwaltung diese Aufgabe übernommen. So kommt es, dass viele Menschen, die auf der Suche nach ihren Wurzeln sind, das Landeskirchliche Archiv aufsuchen. Dort liegen alle noch vorhandenen Kirchenbücher aus evangelischen Gemeinden Westfalens verfilmt auf Mikrofiches bis 1875 vor.
Kenner vieler westfälischer Familiengeschichten
Betreut werden die Besucherinnen und Besucher von Johann Melzer, der sich, wie Murken sagt, bestens auskennt in der Geschichte westfälischer Familien. Mehrwert der Familienforschung: Oft kommen dabei auch interessante Fakten aus der Geschichte der jeweiligen Orte ans Tageslicht. Das jedenfalls hat Jens Murken, der seit 2001 im landeskirchlichen Archiv arbeitet, schon oft feststellen können. Zur Zeit wird deutschlandweit daran gearbeitet, die vorhandenen Kirchenbücher im Internet zur Verfügung zu stellen. Evangelische Landeskirchen und katholische Diözesen arbeiten an einem Portal (www.kirchenbuchportal.de), in dem 190 000 Kirchenbücher einsehbar sein sollen. Irgendwann im nächsten Jahrzehnt soll es fertig gestellt sein. Neben den genealogischen Unterlagen lagern im landeskirchlichen Archiv verschiedene Kirchengemeinde- und Kirchenkreisarchive. Und dann gibt es da noch ein paar wirkliche Schätze: den Nachlass von Kurt Gerstein, jenem umstrittenen „Widerständler in SS-Uniform“ zum Beispiel. Besonders stolz ist Jens Murken auf die Barmer Theologische Erklärung von 1934. Das älteste Stück – als Kopie hängt es im Eingangsbereich des Archivs an der Wand – ist das Fragement eines Psalmenkommentars von Hrabanus Maurus aus dem 9. Jahrhundert. Gefunden wurde es als Einband eines nachreformatorischen Rechnungsbandes im Archiv der evangelischen Kirchengemeinde Oberfischbach.
Jede Zeit hat ihren Umgang mit der Geschichte
Dieses Fragment hat also überlebt. Mehr als ein Jahrtausend. Aber nicht, weil es inhaltlich oder künstlerisch für wichtig erachtet wurde, sondern weil es sich als praktisch erwies – als Einband eben für ein Rechnungsbuch. Man könnte man die Hände über dem Kopf zusammenschlagen angesichts einer solchen Degradierung eines wertvollen handschriftlichen Dokuments. Aber sie zeigt einmal mehr, dass jede Zeit ihren eigenen Umgang mit der Geschichte findet… Heute sind es die Archive, die darüber entscheiden, was Geschichte wird, und was man vergessen darf. Ob das in jedem Fall den Geschmack der Nachwelt trifft – wer weiß? Klar aber ist, dass nicht alles aufbewahrt werden kann. „Was wir abheften, bekommt den Wert erst dadurch, dass wir es abheften“, sagt Murken. Rund zehn Prozent dessen, was in der Landeskirche an Papier produziert wird, wird gesammelt, geordnet und für die Nachwelt erhalten. Das sei schon viel, meint der Archivar. Kollegen in anderen Einrichtungen hätten die Auflage, nur ein Prozent zu erhalten.
Auch elektronische Daten sind nicht wirklich sicher…
Wieviel Prozent es auch sein mögen – das Aufbewahren ist immer mit Problemen verbunden Holzhaltiges Papier löst sich mit der Zeit auf, und auch elektronische Daten sind nicht sicher. Sie müssen immer wieder umgespeichert werden auf andere Datenträger. „Datenmigration“ nennt man das. Am sichersten sei bis jetzt, so Murken, die Aufbewahrung auf Mikrofiches. Bessere klimatische und räumliche Bedingungen für sämtliche Arten von Daten verspricht der geplante Neubau, den das Landeskirchlichen Archivs zusammen mit dem Bethel-Archiv sowie den Archiven von Nazareth und Sarepta voraussichtlich Ende 2010 beziehen wird. Jens Murken freut sich schon. Er hofft, dass er dann noch mehr Menschen interessieren kann für die Arbeit des Archivs. Schließlich erschöpfe die sich nicht im Sammeln alter Akten, sondern verlange Öffentlichkeit und Kommunikation.
»Die „verschwiegenen Sammlungen von Doktor Murken…«
Kommunikationsfähigkeit – die lebt Jens Murken in seiner eigenen Person vor. Nach dem Gespräch mit ihm fehlt am Schluss nur noch eines: die Anspielung auf seinen Namen und auf Heinrich Bölls berühmte Satire „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“. Der Archivar lacht. Er kennt die Anspielung nur zu gut und ist gewappnet. Aus dem gesammelten Schweigen von Doktor Murke hat er selbstironisch die „verschwiegenen Sammlungen von Doktor Murken“ gemacht. Aber wirklich verschwiegen, das ist nach dem Besuch im Landeskirchlichen Archiv klar, sind seine Sammlungen nicht. Im Gegenteil: Sie sind beredte Zeugen einer lebendigen Geschichte. Man muss nur zuhören können.
Autorin: Annemarie Heibrock, Unsere Kirche, 1.3.2008
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