Bad Berleburg. „Die neue Diöcesan-Eintheilung wird hiemit zur öffentlichen Kenntniß gebracht. Zur Gründung und Geschichte der evangelischen Kirchenkreise in Westfalen von 1818 bis 2018.“ Das Dutzend Leute, das sich von diesem etwas sperrigen Titel nicht hatte abhalten lassen, am 4. Juni 2018 ins Berleburger Haus der Kirche zu kommen, wurde gleich zu Beginn des Vortrags von Dr. Jens Murken nochmal auf eine harte Probe gestellt. An die Wand warf der Historiker des Landeskirchlichen Archivs der Evangelischen Kirche von Westfalen per Power-Point-Präsentation eine eng gedruckte Gliederung mit 19 Punkten, oder um genauer zu sein mit XIX Punkten, denn natürlich waren die mit römischen Zahlen versehen. Außerdem eine zusätzliche Erläuterung: „Keine Angst: Ich habe bereits gekürzt“, dazu noch ein Smiley, also ein freundlich grinsendes Gesicht.

Genau mit diesem Augenzwinkern trug der Referent seine generellen Erkenntnisse zum 200-jährigen Bestehen vieler westfälischer Kirchenkreise vor, kam dabei aber immer wieder auf Wittgenstein im Besonderen zu sprechen, auch wenn sich Jens Murkens Einleitung sehr bescheiden gab: „Mein Wissen über die westfälische Kirchengeschichte, insbesondere über die Geschichte der Kirchengemeinden und Kirchenkreise, ist breit wie ein Ozean – und tief wie eine Pfütze.“ Diese Begrenzung werde ihm immer bewusst, wenn er nach Bad Berleburg komme, weil es hier Menschen gebe, „deren kirchengeschichtliche Kenntnisse Tiefseebecken-Dimensionen erreichen“. Damit meinte der Autor der bisherigen beiden Bände des vielumjubelten und hochgelobten Standardwerks „Die evangelischen Gemeinden in Westfalen“ auch den Berleburger Dr. Johannes Burkardt, der kurz zuvor beim Fest zum Wittgensteiner Jubiläum aus der Innenperspektive auf 200 Jahre Kirchenkreis-Geschichte geschaut hatte. Jens Murken fügte dem die Außenperspektive aus Bielefeld hinzu, einerseits im vergleichenden Blick auf unterschiedliche westfälische Kirchenkreise, andererseits mit dem Blick des außenstehenden Nicht-Wittgensteiners. So ergänzten sich die Vorträge der persönlichen Freunde, beide ausgebildete Archivare und Historiker, perfekt. Ohne Absprache hatte der Leiter der Abteilung Ostwestfalen-Lippe des Landesarchivs NRW in Detmold, Johannes Burkardt, als ehrenamtlicher Wittgensteiner Kirchenkreis-Archivar für die bis Juli laufende Ausstellung „200 Jahre Kirchenkreis Wittgenstein“ im Berleburger Haus der Kirche Exponate zusammengestellt, auf die Jens Murken in seinem Vortrag immer wieder verwies, die seine Ausführungen passend illustrierten.
Zu den flott formulierten Beobachtungen und Erkenntnissen kamen bei Jens Murken außerdem die grundlegenden Historiker-Gebote: Ganz genau hinschauen, Tatsachen festhalten, kein überstürztes Urteil fällen. Das stellte er für Schriftstücke deutlich unter Beweis mit seinem direkten Vergleich zweier Veröffentlichungen von 1818, während das Arnsberger Amtsblatt von der „Diöcese Wittgenstein“ sprach, hieß es im Amtsblatt aus Münster „Diöcese Witchenstein“. Aber auch in Bezug auf eine komplizierte Fakten-Lage für ein- und dieselbe Person war der Referent penibel: „Der von 1933 bis 1945 amtierende Superintendent Dr. Karl Hoffmann, wohl ein früher Förderer der NSDAP, aber kirchenpolitisch bei der Gruppe der Neutralen zu verorten, versuchte nach eigenem Bekunden, ‚versöhnlich‘ zu wirken und ‚Meinungsverschiedenheiten tunlichst zu überbrücken‘“, so Jens Murken, um dann fortzufahren: „Sein Presbyterium trat 1934 der Bekennenden Kirche bei; er selbst hingegen nahm an deren Veranstaltungen nicht teil. Einmal eingeschoben folgende Feststellung: Die Erforschung der weit mehr als drei kirchenpolitischen Positionen in der Zeit des Kirchenkampfes – Neutrale, Deutsche Christen, Bekennende Kirche, aber auch deren jeweiligen Abspaltungen – ist auf Gemeinde- und Kirchenkreisebene längst noch nicht abgeschlossen.“

Und auch wenn es für ein endgültiges Bild noch nicht reichen konnte, so waren doch schon die Mosaikstücke spannend, die Jens Murken präsentierte, zum Beispiel von den Wittgensteiner Kreissynoden 1932 und 1933. Wo die eine Kirchengemeinde schon vor der Machtübernahme der Nazis formulierte: „Es soll und muß mit aller Deutlichkeit von der Kirche verlangt werden, zum Nationalsozialismus in ein positives Verhältnis treten zu suchen. Die Diener der Kirche müssen sich von der alten kapitalistischen Ideologie frei machen, sie müssen lernen, das kommende Dritte Reich als etwas zu betrachten, was von Gott kommt.“ Und die andere Kirchengemeinde nach der Nazi-Machtübernahme deutlich Stellung bezog und Folgendes forderte: „Verwerfung des sogenannten arischen Paragraphen in der Kirche, weil solches dem Evangelium widersprechen würde“. Bei der gleichen Synode stellte der Berleburger Pfarrer Karlfriedrich Müller klar: „Wir Reformierten erkennen allein Christus als Haupt und Führer der Kirche an und haben kein Bedürfnis nach andern repräsentativen, autoritativen Amtsträgern, Führern und Bischöfen.“ Wobei Jens Murken das Ganze einordnete: „Auch die Berichte anderer Wittgensteiner Kirchengemeinden warnten vor staatlicher Bevormundung, sahen aber zugleich ‚eine engere Verbindung des deutschen Protestantismus zu einer evangelischen Kirche deutscher Nation unter einem kräftigen Führertum notwendig werden‘.“ Dabei mahnte der Historiker ebenfalls zur Genauigkeit: „Was sich seit 1933 auf der einen Seite als innerkirchlicher Konflikt zwischen den sogenannten Deutschen Christen und der sich aus dem Pfarrernotbund entwickelnden Bekennenden Kirche darstellt, das war auf der anderen Seite durchaus auch das Ringen der Kirche gegen staatliche Willkürmaßnahmen und Durchherrschung der Kirche. Beides umreißt das Geschehen des sogenannten Kirchenkampfes, der gleichwohl nicht zur Kategorie des politischen Widerstandes gezählt werden kann.“
Seine Berleburger Präsentation und der gesamte Vortrag von Jens Murken finden sich auf der Kirchenkreis-Homepage unter http://www.kirchenkreis-wittgenstein.de. Da stehen übrigens auch die Namen der erwähnten Kirchengemeinden. Und wer da jetzt nachguckt, beweist damit, dass Kirchengeschichte spannend ist. Ein Erkenntnis-Gewinn, den man beim knapp zweistündigen und doch kurzweiligen Vortrag von Jens Murken auch ganz unterhaltsam in guter Gesellschaft und mit dem Recht auf Rückfragen hätte haben können.
Text und Bilder: Jens Gesper (KK Wittgenstein), 5.6.2018
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